Russland: Die Berge

Der wilde Kaukasus

Russland: Die Berge - Der wilde Kaukasus

27.05.2017 von Felix unter Reisen

Im vierten und vorerst letzten Teil über Russland geht es um den wilden Kaukasus. Im ersten Teil geht es um die Anreise, im zweiten Teil um Leben und Leute und im dritten Teil um einige Städte Russlands.

Die Berge und der Bergklub - Bezengi im Kaukasus

Die Zeit nach dem Sprachkurs wollte ich natürlich zum Reisen und Erkunden des Landes nutzen. Meine Ideen für eine längere Reise waren entweder in den fernen Osten des Landes, zum Beispiel zum Baikalsee, oder in den Kaukasus zu fahren. Die erste Option war vergleichsweise einfach zu planen, da wir inzwischen wussten, wie das russische Bahnsystem funktioniert, wie man Nahrungsmittel kauft und wie das für Europäer schwer zu durchschauende Registrierungswesen funktioniert. Die zweite Option war deutlich komplizierter. Von der Region gab es praktisch keine Karten, Möglichkeiten der Anreise waren nicht zu ermitteln und dann waren da ja auch noch die abtrünnigen Provinzen, mit denen Moskau wenig Spaß hatte. Um das Ganze noch zu toppen, war 2009 auch noch der Georgienkrieg. Zusammenfassend schien es unmöglich in den Kaukasus zu kommen.

Wie der Zufall es wollte bekamen wir allerdings über einen der vielen Bekannten Kontakt zum Alpinclub der Universität. Dieser Club fuhr alle zwei Jahre zu Ausbildungszwecken in den Kaukasus und auch 2009 sollte es glücklicherweise so sein. Laut Aussage des Clubs dauerte so eine Fahrt in der Vergangenheit immer etwa zwei Wochen und ging zu einem alten Ausbildungslager für Bergsteiger, 17km südwestlich von Безенги (Bezengi), mitten im Hochkaukasus. Das Lager (альплагерь Безенги) stammte aus der Sovietzeit und lag auf 2800 Metern, direkt nebenan diverse Gletscher und Berge mit deutlich über 4000 Meter Höhe. Das Lager war auch die einzige feste Behausung im Umkreis von mehr als zehn Kilometern und Stützpunkt für die zwei Wochen. 2009 gab es weder Führer noch genaue Karten von der Region, erst recht nicht seit dem Krieg mit Georgien. Die einzige genaue Karte gab es im Lager selbst. Auch die Anreise war für den Club in der Vergangenheit ein Abenteuer: Etwa zwei Tage waren nötig, weil in der Gegend nur Allradfahrzeuge vorwärts kamen und anscheinend auch etliche Militärposten die Fahrt behinderten.

ich ließ mich von den Schilderungen und der Reisewarnung für die Region nicht abschrecken und so meldeten wir uns letztich für die Fahrt an. Damit wir aber tatsächlich mitfahren durften, war zunächst einmal eine Genehmingung zum Betreten des militärischen Sperrgebiets nötig und außerdem natürlich einiges an Ausrüstung, da ich nicht mit der Besteigung von Bergen mit mehr als 4000m gerechnet hatte.

Für das erste Problem konnten wir nicht viel mehr machen, als die entsprechenden Formulare und Anträge auszufüllen, bei den zuständigen Stellen einzureichen und dann die Mühlen der Bürokratie mahlen lassen, immer in der Hoffnung die Genehmigung noch rechtzeitig zu bekommen. Diese auszustellen dauerte normalerweise etwa zwei Monate, wir hatten aber nur noch vier Wochen Zeit. Wir hofften trotzdem... .

In der Zwischenzeit war ja auch noch das Ausrüstungsproblem zu lösen. Dieses war vom Eigenaufwand her deutlich umfangreicher und auch schwieriger zu lösen. Zunächst einmal ging es nach Rostov, um im einzigen Sportgeschäft im Umkreis Angebot und Preise zu prüfen. Dabei musste ich leider feststellen, dass es nur Ausrüstung irgendwelcher dubiosen Anbieter zu kaufen gab, was insbesondere bei Seilen und Klettergurten nicht ganz meinen Vorstellungen entsprach. Da iuch außerdem eigentlich bereits alles hatte, nur eben nicht vor Ort, musste der Rest wohl oder Übel irgendwie aus Deutschland verschickt werden. Nach etwas Recherche fand ich heraus, dass es per DHL tatsächlich prinzipiell möglich wäre, Pakete für nicht ganz 40€ innerhalb von drei Wochen nach Russland zu schicken. Einziges verbleibendes Problem für den Absender war dabei die Zollerklärung, die auf russisch und französisch auszufüllen war, aber auch hierfür war ich mir sicher eine Lösung finden zu können. Was ich nicht hatte, aber drigend brauchte war ein Zelt, ein paar warme Klamotten, Steigeisen, Eispickel, Seile und Klettergurt, Karabiner, Handschuhe und warme Socken, ein warmer Schlafsack und ein Helm. Also beauftragte ich meine Eltern besagtes Equipment aus dem Keller zu holen und in einen Umzugskarton zu packen sowie diesen mitsamt außen aufgebrachter Zollerklärung an das Wohnheim zu schicken. Größtes Hindernis war dabei die Zollerklärung, da ich natürlich keine Ahnung hatte wie sich das ganze Zeug auf Russisch nennt. Auch hier waren unsere Bekannten eine große Hilfe. Nachdem meine Eltern die für sie unbekannten Schriftzeichen irgendwie auf das Zollformular übertragen hatten, ging es für mein Paket auf die lange Reise. Von der Genehmigung war da natürlich noch nichts zu hören.

Während wir warteten, trainierten wir. Der Bergklub hatte direkt auf dem Campus der Universität die Möglichkeit an einer Hauswand Klettern zu üben. Hierfür waren aus der Mauer diverse Stücke herausgeschlagen worden um Griffe und Tritte zu erhalten sowie auch etliche Kunststoffgriffe angeschraubt worden. Hier wurde drei Mal die Woche trainiert. Außerdem gab es etwa 80 Kilometer entfernt von Nowotscherkassk in Solin einen Klettergarten, sowie einen Baggersee, zu dem manche Mitglieder unregelmäßig fuhren. Als inoffizielle Klubmitglieder wurden wir eingeladen, an einem Wochenende mitzufahren, was wir natürlich gemacht haben.

Nach dem Aufstehen sind wir die dreiviertel Stunde zum Bahnhof gegangen und waren dann dort auch pünktlichst (wie es sich für Deutsche gehört) um sieben Uhr. Eine viertel Stunde später sind dann auch unsere ganzen Mitreisenden eingetroffen. In der Vergangenheit fuhren wohl nur zwischen vier und sechs Leute, dieses Mal waren wir aber über zehn Personen, was wohl schlichtweg an unserer Teilnahme lag. In Solin angekommen ging es dann ein paar hundert Meter durch die Natur, bevor wir den recht großen Baggersee erreicht haben. Dieser ist schon seit 40 Jahren außer Betrieb und diente ursprünglich der Versorgung von Bahnbaustellen mit Schotter. Da der Schotter direkt aus dem Boden gesprengt wurde, ist der See mit entsprechend steilen Ufern versehen. Nach ausgiebigem Badespaß ging es dann weiter zum eigentlichen Klettergarten. Entgegen der ursprünglichen Aussage war dieser nicht "direkt" neben dem See, sondern ein gutes Stück davon entfernt. Also erstmal wieder zum Bahnhof laufen, in den Zug steigen, drei Stationen fahren und schon waren wir zwar im Nichts aber noch lange nicht am Ziel. Nach ein paar Kilometern Fußmarsch auf einem Waldweg wurde ein Dorf sichtbar, der Waldweg war dessen Hauptstraße. Dort gab es tatsächlich noch ein Geschäft für die wichtigsten Einkäufe und dann begann der nächste Teil des Fußmarsches bei praller Sonne. Nach schier endlosem Gehen und der Überquerung eines Flusses standen wir dann endlich an der Kletterwand und schlugen nicht weit davon entfernt in einem Wald unser Lager auf. Da es inzwischen schon fast dunkel war, wurde das Klettern auf den nächsten Tag verschoben und stattdessen mit dem Kochen begonnen. Hierfür war irgendwann irgendwo im Wald ein Versteck angelegt, aus welchem nun diverse Töpfe und weitere Lebensmittel gezaubert wurden, mit denen das Abendessen möglich wurde. Für die abendliche Unterhaltung hatte irgendjemand die ganze Zeit außerdem noch eine Gitarre mitgeschleppt. Der nächste Tag war im Vergleich unspektakulär: wir kletterten und so verging die Zeit recht schnell. Nur die russische Sicherungstechnik machte mir etwas Sorgen. Da ein Seil hier ein halbes Vermögen kostete, wurden diese auch benutzt bis es wirklich nicht mehr ging. Dazu gehörte auch, dass Scheuerstellen einfach per Knoten aus dem Seil "entfernt" wurden. Wirklich reinfallen mochte ich da nicht. Nach der Rückkehr nach Nowotscherkassk wurden wir dann auch gleich zur nächsten Tour zwei Wochen später eingeladen, die auch gleichzeitig die letzte vor unserer - noch immer unsicheren - Kaukasustour gewesen wäre. An diesem Wochenende ging es aber nach Sochi.

Etwa eine Woche nach unserem Ausflug erhielten wir tatsächlich nach nur etwa drei Wochen (und eine Woche vor Beginn der Reise) die Genehmigung für die Russisch-Georgische-Grenzregion. Fehlte also nur noch meine Ausrüstung aus Deutschland. Nachdem das Ausrüstungpaket in der ersten Juli-Woche Deutschland verlassen hatte, lage es zunächst zwei Wochen irgendwo "im Zielland", bevor es sich tatsächlich wieder in Bewegung setzte, sofern man dem Tracking glauben konnte. Doch da hatte ich mich zu früh gefreut. Einen Tag vor Abfahrt war mein Paket noch nicht im Wohnheim eingetroffen. Die Sendungsverfolgung war wie immer nutzlos, etliche Mails an DHL blieben ohne Antwort und die Nachforschungen meiner Eltern bezüglich des Verbleibs blieben auch ohne Ergebnis. Entsprechend niedergeschlagen kaufte ich zumindest die wichtigsten Dinge in Rostov, um zumindest die niedrigen Berge besteigen zu können. In meinem Einkaufskorb landeten ein großer Rucksack, ein Topf, eine Tasse und Besteck. Zurück in Nowotscherkassk erwartete mich im Wohnheim - das ich schon gekündigt und bezahlt hatte - eine weitere Überraschung. Mein Paket lag abholbereit im Postamt. Also bin ich schnellstmöglich - man kennt ja die Öffnungszeiten - in die Innenstadt und habe nach etlichem Suchen und Fluchen der Schalterbeamtin tatsächlich mein Paket in Empfang nehmen können. Vor lauter Erstaunen über den Zustand des Pakets vergaß die Postdame dann auch gleich noch den Zoll. Mein ursprünglicher Umzugskarton wurde irgendwann während seiner Reise in einen Kunststoffsack gepackt, zusätzlich mit grünem Zollklebeband umwickelt und sah insgesamt so aus, wie man sich ein Paket nach so einer Reise vorstellt: vollkommen verbeult. Zusätzlich hatte sich der Eispickel durch alle Verpackungen gearbeitet und war durch weiteres Klebeband gesichert. Jetzt war ich glücklich, da interessierten mich auch die acht Rubel, die mir die Trambahnschaffnerin wegen Übergepäck abnahm, nicht mehr.

Am Abend des nächsten Tages ging es dann endlich (mit voller Ausrüstung) los. Insgesamt fuhren mehr als 30 Leute mit, entsprechend viel Gepäck lag vor Abfahrt auf dem Ausrüstungsberg. Neben Bergausrüstung wurde auch das gesamte Essen für drei Wochen und das dafür benötigte Gas mitgenommen. Erstes Fahrzeug der Reise war ein alter österreichischer Doppeldeckerbus, der nachdem alles Gepäck auf der unteren Etage eingeladen war mit dem Auspuff praktisch am Boden geschliffen hat. Irgendwie haben wir dann alle in die obere Etage gepasst und so ging es los in die Hauptstadt der Republik Kabardino-Balkarien, Naltschik. Auf dem Weg ging es dann an einigen Straßensperren des Militärs vorbei, die Maschinengewehre in den Bunkern im Anschlag, das Geschütz des Panzers direkt auf den Bus gerichtet. War aber alles halb so wild. Am nächsten Morgen erreichten wir dann unversehrt Naltschik, wo wir und unser Gepäck auf drei kleinere geländegängige Busse umgeladen werden musste. Von Naltschik selbst kann ich leider nicht berichten, da es selbst die Russen als zu unsicher angesehen haben sich mehr als 100m vom Umladeplatz zu entfernen. Wir saßen also auf unserem Gepäck und warteten auf die kleinen Busse, von denen letztlich zwei für die Menschen und einer für das Gepäck genutzt wurde. Von Naltschik ging es dann steil bergauf in den Kaukasus. Die Straße war stets ein Feldweg, der wie wir später erfahren haben, durchaus auch mit normalen PKW bewältigt werden konnte. Unterwegs war eigentlich nur eine wirkliche Kontrolle, die hat dafür recht lange gedauert. An dem dortigen Militärposten wurden sämtliche Namen handschriftlich in ein Heft notiert, damit auch niemand illegal in das georgische Grenzgebiet kommt. Bei der "Ausreise" werden die Namen dann wieder gestrichen. Hauptproblem dabei war, dass einer der Teilnehmer gar keine Genehmigung zum Betreten der Grenzregion hatte. Da jeder einzeln in eine kleine Hütte musste, um dort Pass und Genehmigung vorzuzeigen, wäre hier Schluss gewesen. Daher wurde er einfach für über eine Stunde unter dem gesamten Gepäck begraben, um so durch die Militärkontrolle geschleust zu werden. Hat auch funktioniert. Wir sind dann am späten Nachmittag mit dem üblichen Nachmittagsschauer im Lager angekommen. Überhaupt sollte man stets zusehen mittags wieder im Lager zu sein, da am Nachmittag andauernd Lawinen zu Tal gehen und es außerdem praktisch jeden Tag nachmittags regnet. Die Lawinenproblematik sollten wir noch hautnah erleben, ebenso wie das schlechte Wetter - wettertechnisch war das Jahr 2009 das schlechteste seit langem. Manche Berge konnten das ganze Jahr über nicht ein einziges Mal erfolgreich bestiegen werden.

Entgegen meiner Annahme war das ganze Lager Bezengi recht befestigt und es wurde zu dieser Zeit auch noch weiter ausgebaut mit neuen Unterkunftshäusern. Unsere Gruppe hat dann auf einem ehemaligen Fußballfeld das Hauptlager aus Zelten aufgebaut, was bis in den späten Abend gedauert hat. Gott sei Dank konnten wir als Aufenthaltsraum die fest aufgebauten großen Zelte nutzen, sonst wäre es bei dem vielen Regen unangenehm geworden. Zum Lager gehörte außerdem ein "Restaurant", ein Bau für den Kommandant, ein paar Waschcontainer und eine Art Bergsteigermuseum. Die erste Nach verging schnell und bereits früh am nächsten Morgen (2.8.) begann die erste Unterrichtsstunde. Der russische Alpinismus ist immer noch so organisiert wie zu Sowjetzeiten. Ohne Bergklub kann man nicht in die Berge, in einen Bergklub kommt man nicht vor 14 Jahren. Als Anfänger muss man dann ein paar vorgschriebene Lehrgänge über sich ergehen lassen und zwei Berge der leichtesten Kategorie erklimmen und dann ist man Alpinist Russlands. Das Abzeichen ist äußerst begehrt und weil ich mich so gut geschlagen habe bin jetzt auch ich Alpinist Russlands. Auch der weitere Weg ist streng vorgegeben, Vorträge, Lehrgänge und Berge vorgeschriebener Kategorie, bis man weit genug ist, um selbst Gruppen führen zu können. So geht es immer weiter bis zum Sportheld Russlands. Durch das späte Beginnen mit dem Alpinismus ist aber auch bei höheren Gruppen Trittsicherheit, Orientierungssinn und allgemein das nötige Gefühl nicht wirklich stark ausgeprägt. Da wir aber noch kein russisches Abzeichen hatten, wurden wir in die Anfängergruppe eingeteilt, die an diesem Tag Bewegung auf Gras, Geröll und sonstigem Untergrund gelernt haben. Nach etlichen nicht sonderlich spannenden Stunden ging es dann wieder zurück ins Lager, um dort einen Vortrag über Gefahren in den Bergen und über Erste Hilfe zu hören.

Am zweiten Tag (3.8.) stand Technik mit Seil und Haken auf dem Programm, wofür wir das erste Mal zu einem der beiden großen Gletscher gegangen sind um dort dann im benachbarten Geröll mit Unmengen an Seilen zu hantieren. Auch an diesem Tag nichts Neues, außer dass die russische Sicherungstechnik extrem gewöhnungsbedürftig war. Das hat vor allem am verwendeten Material gelegen, Knoten und Handgriffe waren vergleichbar. Bei den Abseilübungen wurde außerdem vorsorglich doppelt gesichert, was sich spätestens dann als richtiger Weg herausstellte, als sichernde Leute vor Schreck einfach alles haben fallen lassen.

Etwas verunsichert ging es am dritten Tag dann endlich los ins erste Basislager auf 3050m. Das Lager lag im linken der beiden vom Basislager ausgehenden Täler und war für die ersten Touren vorgesehen. Gott sei Dank wurde es uns Deutschen erlaubt – da inzwischen mehrere Leute erkannt hatten, dass wir nicht ganz so unbedarft waren – mit unserem eigenen Tempo zu gehen und nicht hinter den sehr langsamen Damen der Gruppe herzutrotten. Der Aufstieg führte durch eine schöne Landschaft immer entlang des Gletschers bergauf bis zum Talschluss. Gerade als ich ankam, ging an unserem zukünftigen Lager ein Bergretter vorbei. Bepackt war er lediglich mit einer klappbaren Trage. Auf die Frage ob das, was passiert ist, schlimm sei, antwortete er nur mit "sehr". Hierzu muss man wissen, dass jede einzelne Gruppe mindestens ein Funkgerät dabei haben muss. Über dieses Funkgerät wird zweimal täglich (morgens und abends) zum einen die Unversehrtheit der Gruppe und zum anderen das aktuelle Wetter und weitere Besonderheiten kommuniziert. Bleibt ein Funkspruch aus, wird von einem Notfall ausgegangen, wozu dann ein einzelner Bergretter aufbricht um die Gruppe zu suchen, sofern das Wetter dies zulässt. Das Funkgerät ist natürlich auch die einzige Möglichkeit schneller als vor Ablauf der Meldepflicht Hilfe anzufordern, was in diesem Fall gelungen war. Nachdem alle das Lager erreciht hatten und das Abendessen vorbei war, wurden wir zusammengerufen und die aktuelle Situation diskutiert. Nach einigem Hin und Her wurde beschlossen in zwei Gruppen Hilfe zu leisten. Also sind wir alle zusammen um zehn Uhr nachts in totaler Dunkelheit aufgebrochen, um den Verunglückten zu helfen. Es handelte sich um eine ukrainische Gruppe, die entgegen der Logik noch am frühen Nachmittag der Meinung waren es sei klug einen um 60° geneigten Schneehang auf halber Höhe zu queren. Dabei löste sich ein mehrere Hundert Meter langes Schneebrett und riss die gesamte Gruppe mit nach unten. Einer der Gruppe war sofort tot, zwei waren nur noch liegend transportabel, der Rest der Gruppe konnte noch mehr oder weniger von alleine gehen, sah aber teilweise nicht mehr so gut aus. An einen selbstständigen Absteig war aber nicht zu denken. Zunächst ging es für uns auf etwa 3400m, an den Fuß des nächsten Gletschers. Dort wurde die Gruppe getrennt. Die nach russischem Standard dafür Ausgebildeten gingen etwa 300m weiter über den Gletscher nach oben zu den Verletzten (und dem Bergretter der uns angefordert hatte), der Rest wartete darauf, dass die Verletzten runtergebracht wurden. Das Warten war wenig angenehm, da es sehr kalt wurde und dazu ein eisiger Wind geblasen hat. Immerhin hatten wir einige Kocher für warme Getränke dabei. Nach einiger Zeit wurden dann die beiden Schwerverletzten abgeseilt und von uns in Empfang genommen. Nun begann die schwierige Aufgabe eine Trage über einen steilen Bergpfad in der Nacht nach unten zu befördern. Wir bildeten je Trage zwei Teams, die sich immer abwechselten. Während das eine Team getragen hat, sicherte das zweite Team die Trage von hinten mit Seilen, so dass diese nicht abhauen konnte, wenn das erste Team stolperte, ausrutschte oder die Trage abstellen musste. Da auf dem schmalen Pfad kein Platz für zwei Träger und eine Trage war, mussten wir größtenteils neben dem Pfad im unbefestigten Gelände voller loser Steine gehen. Die Verletzten, die zwar noch stehen konnten, aber kaum gehen, wurden von weiteren Gruppen gestützt. Etwa jede Stunde wurde dann eine kurze Pause eingelegt um zu trinken und sich etwas zu erholen. Nach vielen Fluchen und völlig erschöpft kamen wir morgens um fünf Uhr als Erste wieder in unser Lager. Die Verletzten wurden den Anfängern übergeben, die sicherheitshalber im Lager geblieben waren, damit wir uns ausruhen konnten bevor es weiter ins Tal gehen sollte. Gleichzeitig mit dem Unfall wurde auch ein Hubschrauber angefordert, der die Verletzten abholen sollte. Der nächste Hubschrauber war allerdings erst in Krasnodar stationiert, etwa ___km entfernt. Solange nicht geklärt war, wer den Hubschrauber bezahlen würde, ist dieser auch nicht gestartet. Daher unsere nächtliche Aktion - würde gar kein Hubschrauber kommen, müssten wir die Verletzten weiter bis zum Baislager tragen. Gegen Mittag kamen dann die letzten Verletzten an, außerdem hatte sich glücklicherweise die Frage geklärt, wer den Hubschrauber bezahlen würde, so dass dieser inzwischen unterwegs war, aufgrund eines Tankstopps aber noch nicht da war. Am Nachmittag war es dann aber soweit, der alte MI-___-Hubschrauber landete sicher auf dem Gletscher an unserem Lager, lud die Verletzten ein und schraubte sich anschließend in großen Kreisen immer weiter nach oben, bis er schlussendlich auch den Toten vom Gletscher aufsammeln konnte. Dann verschwand er dem Tal folgend in der Ferne. Wenn wir nicht gerade jemanden getragen haben, haben wir geschlafen.

Am fünften Tag (6.8.) ging es dann endlich auf den Berg. Ich wurde der besten Gruppe zugeordnet und konnte so bei besten Wetter früh am Morgen losziehen. Es ging über den Gletscher hinauf zum Pic Brno, der neben dem "Lawinenberg" liegt und von dessen Gipfel die größe der Lawine und die Leichtsinnigkeit der unkrainischen Gruppe gut zu erkennen waren. Abgesehen vom Gletscher war der Aufstieg in einfachem Geröll, so dass sich keine Schwierigkeiten ergaben. Zurück auf dem Gletscher haben sich dann die Wege von mir und den anderen Deutschen getrennt, da diese aus verschiedenen Gründen zurück nach Nowotscherkassk beziehungsweise Deutschland mussten. Ich habe dann mit meiner Gruppe noch die über den Gletscher verstreuten Habseeligkeiten (Zelte, Seile, Rucksäcke, Verpackungen, ...) der ukrainischen Gruppe eingesammelt. Alles was noch brauchbar war, wurde in Besitz genommen, der Rest russlandtypisch in einer großen Gletscherspalte versenkt.

Am 7.8. war dann für meine Gruppe (ich blieb bei der guten Gruppe) Gletschertraining angesagt, für den Rest der Pic Brno, da sie noch einen Tag Pause verordnet bekommen hatten. Schon morgens kurz nach dem Aufstehen kam allerdings das erste Gewitter, so dass unser Training erst einmal verschoben wurde. Nachmittags und nach dem zweiten Gewitter sind wir dann aufgebrochen, haben ein paar Sachen geübt und sind dann schnell wieder zurück, da eine weitere Front nahte. Während wir wieder in unseren Zelten lagen und dem Regen zuhörten, ist dann auch der Rest vom Pic Brno wiedergekommen, beziehungsweise vom Gletscher, weiter sind sie nicht gekommen. Aufgrund des Wetters und der ungünstigen Vorhersage, die aus den gesammelten und per Funk übertragenen Beobachtungen der Gruppen besteht, sind wir dann zurück ins Hauptlager gegangen.

Ursprünglich wollten wir nur einen Tag im Hauptlager bleiben, aber auch am zweiten Tag war das Wetter alles andere als prickelnd, so dass wir einen weiteren Tag blieben. Außer zum Duschen und Waschen nutzten wir die Zeit außerdem für Phantomime und den Besuch des dortigen "Museums".

Am 10.8. ging es dann acht Stunden lang über den größten Gletscher des Kaukasus nach oben in das sogenannte österreichische Lager auf 3500m. Der Weg dorthin führt zunächst vom Hauptlager auf den Gletscher und auf diesem immer geradeaus nach oben, bis man zu einem riesigen Felsen trifft, der auf dem Gltescher liegt. An diesem 15 Meter hohen Koloss muss man links oder rechts abbiegen und so den Gletscherbruch umgehen, der kurz danach unterhalb des Zusammenflusses der beiden kleineren Gletscher liegt. Das österreichische Lager befindet sich am linken der beiden Gletscher, daher sind wir nach links. Aufgrund des immernoch mäßigen Wetters, war der Fels gleichzeitig auch die einzige Orientierungsmöglichkeit - weiter als 200m hat man normalerweise nicht gesehen. Oberhalb des Gletscherbruchs geht es dann auf der Seitenmoräne wieder immer geradeaus bis man das Lager, markiert durch eine winzige Hütte, erreicht. Meine Gruppe erreichte als Erste das Lager gegen 18 Uhr, als es plötzlich aus dem Nebel auftauchte. Komischerweise war von den Anderen auch um 22 Uhr noch nichts zu sehen, so dass wir mal wieder mit Taschenlampen zu einer nächtlichen Suchaktion ausgeschwärmt sind. Im Gegensatz zu unserem vorherigen Nachtabenteuer, war hier zum einen der Weg viel besser und zum anderen war gar nichts passiert, sie waren nur extrem langsam. Wir haben also ein paar Rucksäcke übernommen und waren dann mit allen anderen um zwei Uhr nachts endlich da. Aufgrund der nächtlichen Aktion wurde der nächste Tag (mit bestem Wetter) als Ruhetag deklariert, wir haben also nichts gemacht, als Unmengen zu essen.

Am nächsten Tag (12.8.) ging es dann los zum nächsten Gipfel, dem Pic Sella. Nicht nur das Lager heißt Österreichisches Lager, auch die umgebenden Berge haben alpine Namen. Der Gipfel war nach russischem Maßstab eine 3a/b, also durchaus mit Kletterei. Das Wetter war um vier Uhr morgens wie immer nicht unglaublich gut, aber OK. Voller Energie zogen wir los. Eine Stunde später waren die Wolken allerdings deutlich dichter und es hat angefangen zu schneien, wiederum eine halbe Stunde später war die Sicht bei zehn Metern, gleichzeitig fiel massenhaft Schnee und dazu ging ein starker Wind, der die Temperaturen nicht gerade angenehmer machte. Wir kämpften uns trotzdem Meter um Meter weiter, bis wir den Grat erreichten. Hier stellte sich allerdings schlagartig die Sinnlosigkeit unseres Unterfangens heraus. Der Wind war so stark, dass man sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte und gleichzeitig trieb er millionen kleiner Eispartikel mit entsprechender Wucht direkt ins Gesicht. Daher haben wir dann nach einem versuchten Beweisfoto dazu beschlossen das Ganze sein zu lassen und sind wieder zurück gestapft zur winzigen Hütte, wo wir den Rest des Tages verbracht haben, während draußen 30cm Schnee fielen. Über Nacht verwandelte sich die Umgebung in einer Winterwunderland - im August.

Wiederum einen Tag später (13.8.), die Zeit für einen Gipfel wurde langsam knapp, starteten wir einen zweiten Versuch für den Pic Sella, diesmal tatsächlich bei bestem Wetter. Trotz des guten Wetters entschied ich mich im letzten Moment doch noch alle meine warmen Klamotten mitzunehmen und damit mindestens das dreifache Gewicht meiner Kollegen zu tragen. Wie sich herausstellen sollte ein äußerst weiser Entschluss, denn das Glück war uns abermals nicht hold. Die Route sollte über einen Felsgrat zum Gipfel führen und insgesamt sechs Stunden dauern. Meinem Kartenstudium nach sollte es auf einem großen Gletscher um den Gipfel herum gehen und dann die letzten Höhenmeter durch den Fels nach oben. Entgegen meiner VOrstellung und trotz meiner vorsichtigen Nachfragen, bogen wir bereits relativ früh vom Gletscher in den Fels ab. Die Route war durch viel Kletterei und großartige Ausblicke geprägt. Nachdem wir alleine etwa sechs Stunden auf dem Grat waren, begann ich die Anderen zu fragen, ob sie sich denn ganz sicher seien, dass wir hier richtig wären. Sie waren sich da alle sehr sicher - wie sich am nächsten Tag zeigte, hatte aber ich Recht. Wegen der langen Verzögerung am Grat waren wir dann erst um kurz vor sieben Uhr am Abend am Gipfel. Das alleine sollte aber kein Problem sein, da der Abstieg über das Schneefeld auf der anderen Bergseite normalerweise sehr schnell geht, da es eigentlich fast gerade nach unten ins Tal geht. Aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen ist dann zuerst das Funkgerät ausgefallen, so dass wir keinen Kontakt mehr nach unten aufnehmen konnten. Und wie es so kommt, wenn wenig Zeit ist, man 16 Stunden nichts gegessen hat und Russen wir üblich auch nichts zu trinken haben, hat sich einer der Teilnehmer zehn Meter unter dem Gipfel auch noch die Schulter ausgekugelt. Da man mit einer ausgekugelten Schulter keine Sicherung bedienen kann, bedeutete das den Verunglückten über Fixseile zu sichern. Das aber dauert. Anstatt eines schnellen Absteigs hieß es jetzt also: Im Schneckentempo vorwärts. Als es dann dunkel wurde, waren wir gerade irgendwo in einer 60°-Steilflanke neben einem Felsen und mussten einsehen, dass wir die Nacht ungeplant am Berg verbringen würden. Also zogen wir alle Kleidung an, die wir hatten (ich mehr, andere weniger), leerten unsere Rucksäcke, schlüpften mit den Beinen hinein und setzten uns Rücken an Rücken auf unsere Seile hinter den Felsen. Dann harrten wir der Dinge die da kommen sollten. Es kamen: die Nacht, die Kälte und der Wind - um ein Haar als Viertes auch der Tod. Zuerst kam die Nacht. Sie war klar und man konnte die umliegenden schneebedeckten Gipfel sehen, wie sie im Licht des Vollmonds schimmerten. Der Mond stand direkt gegenüber, als die Kälte kam. Wir waren auf etwa 3800m, bei klarem Himmel auf Schnee. Nicht die besten Vorraussetzungen für eine Übernachtung ohne entsprechendes Equipment. Mit jeder Stunde fiel das Thermometer weiter und weiter und als es bereits bitterkalt war, kam der Wind. Unsere einzige Deckung bot der Felsen neben uns, aber von dem Sturm der dann bließ konnte er uns wenig schützen. Wir hatten zwei kleine Kocher dabei, mit denen die ganze Nacht über, so lange noch Gas vorhanden war, Schnee geschmolzen wurde, um diejenigen, die fast keine Kleidung hatten, irgendwie warmzuhalten. Andere versuchten durch hoch- und runterlaufen eines nahen Schneefelds, das durch den Mond gut beleuchtet war, irgendwie die Kälte draußen zu halten. Irgendwann half das aber alles nichts mehr, es war kalt. Unser einziges Glück war die Jahreszeit. Im August geht auch im Kaukasus die Sonne sehr früh auf. Viel länger als bis Sonnenaufgang hätte so mancher wohl auch nicht mehr durchgehalten. Schon mit der Dämmerung konnten wir unseren Weg vollzählig, aber mit deutlichen Spuren fortsetzen. Als dann die Sonne aufging und ihre Strahlen Wärme brachten, war es überstanden. Einige 100 Höhenmeter tiefer kam uns dann eine Rettungsgruppe entgegen, die aufgrund des fehlenden Abend-Funkspruchs aufgebrochen war, um nach uns zu suchen. Die beiden wichtigsten Mitbringsel der Gruppe war heißer Tee und Schokolade. Noch nie davor und niemehr danach habe ich so guten Tee getrunken. Da wir die Gruppe am Fuß der Steilwand getroffen hatten, ging es von nun an vergeleichsweise gemütlich zurück ins Lager. Unser 13ter Tag war in folge der Nacht dann abermals ein Pausentag - es blieb also bei zwei Gipfeln in knapp zwei Wochen.

Der Rückweg ins Lager Bezengi war wenig spektakulär, ich hatte mir nur in der kalten Nacht auf 3800m eine Erkältung zugezogen, die sich doch stark bemerkbar machte. Dafür gab es dann warmes Wasser in den Duschen – das erste Mal warmes Wasser seit sehr vielen Wochen. Außerdem immerhin eine Bretterbude als Klo. Im Gegensatz zu den sehr frostigen Klogängen in den Hochlagern, war hier über einem großen Loch ein Holzboden gebaut, der an vier Stellen große Ausschnitte hatte. Rundherum eine Bretterwand und ein Dach drauf - fertig.

Nach dem Zusammenpacken am nächsten Tag sind wir dann Mittags mit nur noch zwei Bussen (viele Leute sind vorzeitig nach Hause gefahren) zurück nach Naltschik gefahren. Wie schon bei der Hinfahrt mit einem kleinen Versteckspiel für die Wachsoldaten. Von Naltschik ging es dann mit einem großen Autobus zurück nach Nowotscherkassk, wo wir um drei Uhr nachts ankamen. Den Rest der Nacht habe ich bei jemandem aus dem Bergklub verbracht und damit war das Abenteuer Kaukasus dann auch vorbei.

Während der zweieinhalb Wochen gab es eigentlich nur komisches Weißbrot, Fett in fester Form (noch mit Haut oben drauf), eine Mischung aus einem Drittel Milch und zwei Drittel Zucker, Buchweizengrieß, Kartoffeln, Zucker und gewöhnungsbedürftige Wurst zu essen. Folglich konnte ich die erste Zeit nach meiner Rückkehr weder Fett noch Zucker sehen, und brachte bei 1.95m nur noch ein Gewicht von 65kg auf die Waage. Dass alle trotz der teilweise sehr ebenteuerlichen Sicherungstechnik wohlbehalten wieder ins Tal gekommen waren, ist eine weitere bemerkenswerte Tatsache. Jemanden nur per Karabiner zu sichern, weil das Seil ja sowieso über so viele Felskanten läuft und deshalb auch keine Zwischensicherungen zu setzten wird sich mir nicht mehr erschließen.

Trotz all der Strapazen und Widrigkeiten war die Reise in den Kaukasus definitiv das Highlight des halben Jahres und ein Ort, den ich gerne noch einmal besuchen würde. Einer meiner deutschen Mitstreiter hat dies bereits getan.



Zusammenfassung

Sehr, sehr schöne sechs Monate in einem Land voller Gegensätze.
Ich würde nie zum Studieren oder Arbeiten hinfahren, aber trotz der restriktiven Bürokratie jederzeit für einen Urlaub.


Teil 1 - Die Anreise
Teil2 - Leben & Leute
Teil3 - Die Städte




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